Adler
 
1 - Die Katzenmutter
 

Katzenkinder

Die Katzenmutter, wie Adelheid liebevoll von allen genannt wurde, lebte am Rande unseres kleinen Städtchens. Mit ihrem Mann Josef bewohnte die etwas hagere Frau einen älteren Wohnwagen, dessen blaues Vorzelt bereits einige Risse aufwies.

Wie jeden Morgen gegen 9 Uhr, joggte ich auf dem Feldweg, der an dem Gefährt vorbeiführte. Adelheid saß wie gewohnt bei Wind und Wetter draußen auf einem klapprigen, gelb-blau gestreiften Liegestuhl und las in einem Buch. Trotz des kühlen Windes steckten ihre nackten Füße in Sandalen und der einst rote Bademantel leuchtete blassrosa in den ersten Sonnenstrahlen.

„Hallo Adelheid!", rief ich der freundlich winkenden Frau mit den weißen Strähnen im dunklen Haar freudig zu. Liebevoll streichelte sie eine getigerte Katze und vertiefte sich sogleich wieder in ihrer Lektüre. Auch heute war sie umringt von ihrer Katzenfamilie, welche neben ihrem Zuhause in einem kleinen Holzverschlag untergebracht war.

Auf dem Rückweg, etwa 30 Minuten später, sah ich Adelheid wieder. Ihre Füße steckten nun in grünen Gummistiefeln und sie hatte sich einen blauen Overall übergezogen. Dem kleinsten Kätzchen auf ihrem Schoss wusch sie hingebungsvoll mit einem Wattebausch die Augen aus und putzte sein von Milch verschmiertes Schnäutzchen. Überall standen blecherne Töpfe und bunte Teller, gefüllt mit Katzenfutter, die von den miauenden Tieren umlagert wurden.

Diese traute Zweisamkeit zwischen Mensch und Tier rührte mich jedes Mal aufs Neue!

Da mich meine Arbeit rief, denn mit zwei schulpflichtigen Kindern und einem Haushalt hatte ich genug zu tun, winkte ich Adelheid nochmals rasch zu, bevor ich im nahen Wäldchen verschwand.

So gingen einige Jahre ins Land, Adelheids Haare waren etwas grauer geworden, ansonsten war alles beim Alten. Ich drehte wie üblich meine gewohnte Runde, winkte ihr zu und sie lächelte zurück.

Eines Morgens, im Spätsommer, saß Adelheid, bekleidet mit einem grauen Regenmantel und festen Halbschuhen, vor ihrem Wohnwagen und zog genussvoll an einer Zigarette. Auf dem kleinen Tisch, er schien neu zu sein, stand eine gefüllte, schwarze Reisetasche. Lautes, herzzerreissendes Miauen liess mich kurz innehalten. Etwas erstaunt lief ich jedoch weiter um den kleinen See.

Auf dem Rückweg stellte ich zu meiner Verwunderung fest, dass Adelheid's Stuhl leer war.

Was hatte das zu bedeuten, dachte ich verwundert über das ungewohnte Bild?

Da mir diese Veränderung den ganzen Tag nicht aus dem Kopf ging, entschloss ich mich, am kommenden Morgen mit Adelheid zu sprechen, das erste Mal in all den Jahren.

Doch ihr Stuhl war noch immer leer! Als ich mit einem unguten Gefühl ihr Gärtchen betrat, herrschte eine beängstigende Stille. Keine Katze weit und breit! Ich rief laut und trotzdem etwas scheu nach der Katzenmutter. Keine Antwort! Einen Moment lang stand ich ratlos und enttäuscht vor dem kleinen Wohnwagen.

Ich näherte mich zaghaft der Türe. Sie ließ sich problemlos öffnen. „Adelheid, bist du da?" rief ich lauter als gewollt in den düsteren Raum hinein.

Nichts! Dann ein leises Röcheln. Ganz hinten in der Ecke bewegte sich etwas. War Adelheid etwa krank geworden? Eine Katze sprang um Haaresbreite an meinem Gesicht vorbei. Obwohl mein Herz raste, bewegten sich meine Füsse weiter ins Innere. Ach Gott, da lag ja ein Mensch! Aber es war nicht die Frau, die ich suchte, sondern Josef, ihr Mann. Sein Gesicht sah ausgemergelt und blass aus. Das fahle Licht, das durch die Dachluke auf den mageren Körper fiel, zeigte, dass hier ein Mensch förmlich am Verhungern war.

Vorsichtig legte ich meine Hand auf den kalten Arm des alten Mannes. Er reagierte weder auf meine Stimme noch auf die Berührung. Ich wartete. Vielleicht würde er gleich aufwachen und mir mitteilen, wo sich Adelheid befand.

Währenddessen betrachtete ich fassungslos die trockenen, aufgesprungenen Lippen des Greises. Das erneute Stöhnen ermahnte mich, endlich etwas zu unternehmen. Meine Erstarrung fiel von mir ab, als ich die Nummer der Polizei auf meinem Mobiltelefon wählte.

Schneller als erwartet ertönte die näherkommende Sirene des aufgebotenen Rettungswagens.

„Gehen Sie ruhig nach Hause, wir kümmern uns um den Patienten!" sagte der Nothelfer freundlich, nachdem ich ihm die Situation geschildert hatte.

Beim Verlassen des Gärtchens stolperte ich über einen der bis zum Rande gefüllten Katzenteller. Wo um alles in der Welt war Adelheid? Warum liess sie ihren Mann verhungern, während ihre Katzen im Überfluss lebten?

Einige Tage später wurde ich auf die Polizeiwache gebeten. Eine junge Beamtin teilte mir betreten mit, dass Josef tatsächlich seiner Unterernährung erlegen sei. Warum das geschah, blieb ein Geheimnis, da Josef nicht mehr darüber sprechen konnte.

Ein Tierheim kümmerte sich liebevoll um die Katzenschar.

Adelheid wurde Jahre später in den Vavelas von Rio de Janeiro, in einer heruntergekommenen Hütte, umringt von unzähligen Katzen, gesichtet.