Adler
 
3 - Weng-Li und die Waisenkinder
 

Laos

Weng-Li’s Lächeln erfreute bereits einige Monate die Patienten des 'Vang Vieng Hospital', in einer Kleinstadt im Nordwesten von Laos, als er zur Abteilungsleiterin der Kinderstation gerufen wurde. Mit klopfendem Herzen stand der junge Krankenpfleger mit dem pomadisierten, pechschwarzen Haar vor dem Arbeitstisch von Doktor Barbara Weiss, der Schweizer Ärztin, die hier schon seit zwanzig Jahren mit viel Geduld und Freude ihrer Arbeit nachging.

Der Fleiss des jungen Pflegers war bis zu ihr durchgedrungen. Kurzerhand entschloss sich Miss Barbara, wie sie von allen liebevoll genannt wurde, Weng-Li in ihre Abteilung aufzunehmen. Weng-Li’s Aufopferung führte dazu, dass er rasch in eine gehobenere Position der Kinderabteilung aufstieg. An der Seite der Ärztin durfte der Pfleger nun jeden Tag mit auf Visite, was den jungen Laoten sehr ehrte!

Während einer kurzen Pause nach dem täglichen Rundgang weihte Miss Barbara ihren Mitarbeiter in ihre Pläne ein: „Ach, Weng-Li, ich bin es müde, beinahe täglich hier in der Klinik zu operieren. Mein Entschluss steht fest, in Kürze eröffne ich eine Arztpraxis in meinem geräumigen Haus.“ Der junge Pfleger erblasste ob dieser Ankündigung. „Keine Sorge mein Freund, ich biete dir eine gute Stelle an!“

Dieser schlug seine Arme kreuzweise vor die Brust, verneigte sich und sprach: „Sie sind sehr liebenswürdig Miss, das habe ich gar nicht verdient!“ „Und ob du das verdienst hast, mein lieber Weng-Li", erwiderte die Ärztin freundlich.

Am Tag, an dem Miss Barbara ihre ersten Patienten empfing, stand zuvorderst in der langen Warteschlange ein kleiner Junge, der bezaubernd aussah, wäre da nicht ein grosses schwarzes Muttermal auf seiner rechten Wange gewesen! Nach gründlicher Untersuchung stellte Dr. Weiss mit Bedauern fest: sie konnte dem Kleinen nicht helfen, da ihr die Erfahrung im Bereich der Schönheitschirurgie fehlte. Wie sich nach mehreren Tests erfreulicherweise herausstellte, brauchte sich Lan, so hiess der Junge, keine Sorgen zu machen, denn der Fleck war gutartig und würde nicht weiter wachsen.

Der kleine Lan hatte es der Ärztin angetan, darum erkundigte sie sich trotz mangelnder Zeit, wo er denn zu Hause sei. „Ich wohne zusammen mit zwei Schwestern und vier Brüdern draussen am Fluss in einer kleinen Hütte. Unsere Eltern sind während den letzten Unruhen von räuberischen Banden verschleppt worden. Wir leben von dem was wir erbetteln und uns die Nachbarn schenken.“ Das Essen schien karg zu sein, denn seine Knochen standen überall unter der Haut hervor, so mager war der Knirps!

Dr. Weiss stellte schon nach kurzer Zeit mit Bedauern fest, dass sich nebst Lan viele weitere elternlose Kinder unter ihren Patienten befanden.

Eines Nachts hatte sie die grandiose Idee, ein Heim für ihre Schützlinge zu bauen. Sie liess Weng-Li zu sich rufen, um mit ihm ihr Vorhaben zu besprechen. Der engagierte Pfleger erzählte ihr, er habe ein altes, baufälliges Haus von seinen Eltern geerbt, man müsste es nur renovieren, und dieses in ein Kinderheim umfunktionieren. Miss Barbaras Begeisterung kannte keine Grenzen! In Kürze trieb sie das Geld auf, das sie für das neue Projekt benötigten. Nach etlichen Hammerschlägen und Pinselstrichen kam endlich der Tag der Eröffnung des Hauses für elternlose Kinder!

Alles was in der Gegend Rang und Namen hatte, war eingeladen und feierte ausgelassen mit. Nach der gelungenen Feier schlüpften Lan und die anderen Kinder in ihre neuen Betten und schliefen glücklich ein.

Ein Jahr verstrich, Weng-Li arbeitete in der Zwischenzeit vollamtlich im Waisenhaus, obwohl Dr. Weiss’s Praxis auf Hochtouren lief.

Nach mehreren Jahren ohne Ferien brauchte die Ärztin dringend eine Auszeit. Darum liess sie Weng-Li zu sich kommen, um ihm ihren spontanen Einfall zu unterbreiten. „Morgen Mittag will ich mit den Kindern speisen und mich von ihnen verabschieden, willst Du das für mich vorbereiten?“ Weng-Li, dem dieser Besuch anscheinend viel bedeutete, lief eilig ins Heim, um für den kommenden Tag gewappnet zu sein.

Wie vereinbart klopfte die Ärztin am nächsten Tag kurz vor Mittag an der Türe des Waisenhauses. Da ihr niemand öffnete, schaute sie sich verwundert um. Sie verstand nicht, warum kein einziges Kind draussen im sonnenüberfluteten Garten spielte. Mehrmaliges Rufen und heftiges Poltern an der schweren Eichentüre blieben erfolglos. Die Türe blieb geschlossen! „Verflucht noch mal, Weng-Li, wo bist Du?“ rief sie beinahe hysterisch. Aber nichts regte sich.

Nach einer Ewigkeit traf endlich der herbeigerufene Polizist, bewaffnet mit einem Stemmeisen, ein. Gewaltsam öffnete er das Tor.

Kein Mensch weit und breit!

Einem Herzanfall nahe, sah die Ärztin, dass hier schon seit Monaten niemand mehr hauste! Wo, um Himmelswillen, waren die Kinder geblieben? Wütend fuhr Miss Barbara zurück in ihre Praxis, um den Übeltäter zur Rechenschaft zu ziehen. Doch von Weng-Li fehlte jede Spur! Eine Suchaktion der Polizei brachte keinen Erfolg. Weng-Li mitsamt den Waisen waren und blieben verschwunden! Dr. Weiss ging das so an die Nieren, dass sie nun definitiv eine längere Auszeit brauchte.

Geknickt reiste sie in die Schweizer Berge. In Grindelwald hoffte sie auf Erholung, indem sie, wenn das Wetter es zuliess, ausgiebige Wanderungen zu unternehmen gedachte. Gemütlich sass sie an einem herrlichen Sonnentag auf dem Stumpf einer gefällten Rottanne und biss genüsslich in ihr mitgebrachtes Brötchen, als gerade eine Schulklasse mit ihrem Lehrer fröhlich an ihr vorbei zog. Sie schaute dem Treiben der Kleinen amüsiert zu, doch dann glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen!

Einige Schritte neben ihr stand doch tatsächlich ein asiatisch aussehender Junge, mit einem auffälligen Muttermal auf seiner rechten Wange und spielte Fussball mit einem Tannenzapfen! Die Ärztin sprang ungläubig auf und rief: „Lan, erkennst du mich nicht? Ich bin Miss Barbara!“ Der Knabe schaute sie verblüfft an, dann nickte er heftig mit dem Kopf und flog ihr voller Freude in die Arme! Sein Lehrer kam besorgt herbeigeeilt. Er musterte die Fremde mit einem Blick, den man nicht so richtig deuten konnte, und hielt Lan schützend am Arm. Barbara klärte den Mann natürlich sofort auf und so kam der Stein ins Rollen!

Wie sich bald herausstellte, lebten alle Waisenkinder, die man in Weng-Li's sicherer Obhut glaubte, überall in Europa verteilt.

Dieser Gauner hatte sich mit dem Kinderhandel eine goldene Nase verdient, bevor er das Weite suchte! Nach eingehender Prüfung stellte sich zum Glück heraus, dass jedes der Kinder wohl behütet in einer Adoptiv-Familie ein neues Zuhause gefunden hatte.

Deshalb legte man den Fall zu den Akten. Dr. Barbara Weiss reiste nur eine Woche später zurück nach Laos, um dort nach Weng-Li zu suchen. Trotz der Unterstützung durch die Polizei konnte man den Gauner nicht finden.

Weng-Li, dieser Schlaumeier, blieb wie vom Erdboden verschluckt!