Adler
 
4 - Die Wolke von Tschernobyl
 
Tschernobyl

Es war einer der heissesten Tage in Orizaba. Diese Stadt befindet sich im Staate Veracruz. Und dieser wiederum befindet sich in México!

Normalerweise wÜrde ich ein schattiges Plätzchen suchen, doch heute war "El dia del Niño", der Tag des Kindes, der hier immer ganz speziell gefeiert wird. So sass ich also inmitten vieler MÜtter und ihren Kindern, mit Sandrita, meiner damals drei Jahre alten Tochter, in der ersten Reihe im Hofe des Kindergartens. Wir genossen die AuffÜhrung von "Blancanieves y los siete enanitos" - „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.

Trotz des breitkrempigen Sonnenhutes lief mir der Schweiss in die Stirne. Sandrita spielte vor Beginn des Theaterstücks mit einigen ihrer Freunde unter einem grossen Mangobaum, wo es schön schattig war. GlÜcklicherweise wurde ich durch Schneewittchen, das direkt vor mir hin und her stolzierte, abgelenkt. Meine beste Freundin Yolanda, meine Namensvetterin, war in die Rolle dieser berÜhmten Märchenfigur geschlÜpft, was sie grossartig spielte. Die kleine Mexikanerin, mit dem wunderschönen dunklen Haar, welches ihr bis zu de HÜften reichte, sah bezaubernd aus!

Meine kleine Tochter und ich applaudierten und beobachteten fasziniert, wie die Sieben Zwerge hereinspazierten. Die MÜtter klatschten immer wieder laut und die Kleinen jubelten vor Freude. Ich sah mich um und erkannte viele bekannte Gesichter.

In der Pause der AuffÜhrung genossen Sandrita und ich Tortas, die an alle Anwesenden verteil wurden. Diese mit Mehl bestäubten Brötchen, die mit Frijoles, den schwarzen, gekochten und in Öl frittierten Bohnen, gefÜllt sind, schmecken einfach köstlich.

Während dessen hörte ich hinter mir einige Frauen miteinander tuscheln. Ich verstand nur immer wieder Jod, konnte aber so ohne Zusammenhang mit diesem Wort nichts anfangen, obwohl mir dieses Element als gelernte Chemielaborantin durchaus geläufig war.

Ein Gong ertönte, die Pause war zu Ende. Alle warteten gespannt auf die Fortsetzung der AuffÜhrung. Schnell nahm ich einen kräftigen Schluck aus meiner Wasserflasche, da hörte ich doch tatsächlich nochmals „Jod“ und dann noch dazu „Wir mÜssen es ihr sagen!“ Meinten die am Ende mich? Neugierig drehte ich nochmals meinen Kopf und sah in der Reihe hinter mir einige Frauen, die mir gequält zulächelten. Schneewittchen sang gerade ein lustiges Liedchen, als eine der Frauen einen Anlauf nahm, um mir zuzuflÜstern, Über der Schweiz hänge eine riesige, radioaktive Wolke vom Unfall im Atomkraftwerk in Tschernobyl!

Dann sprachen sie alle durcheinander! Es sei schrecklich, sogar hier in México denke man darÜber nach, Jod zu verteilen, da dieses vor den radioaktiven Strahlen schÜtze. Mich traf beinahe der Schlag! Ich brachte kein Wort mehr heraus, sondern packte Mitten in der Vorstellung meine verwunderte Tochter und rannte mit ihr unverzÜglich zum Auto. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Yolanda uns verständnislos nachblickte!

Mit grossem Tempo raste ich Über den Asphalt nach Hause zurÜck. Kaum ausgestiegen, stÜrzte ich mich ans Telefon, um meine Eltern anzurufen. Nach endlosem Klingeln endlich ein völlig verschlafenes Murmeln meiner Mutter! In der Aufregung vergass ich völlig, dass es in der Schweiz ja mitten in der Nacht war.

Als Mutter meine Stimme erkannte, fragte sie ängstlich, was denn um Himmels Willen passiert sei! „Das fragst du mich! Kommt sofort zu uns nach México!“ rief ich verzweifelt in den Hörer„. „Warum sollten wir das denn tun?“ kam ihre mich etwas verblÜffende Antwort zurÜck. „Hast du die schreckliche Wolke Über euch nicht gesehen?“ fragte ich ungläubig. „Nein, ich weiss von nichts! Warte, ich schaue rasch hinaus!!" Mama legte geräuschvoll den Hörer hin und ich hörte sie das Fenster öffnen.

Sie kam zurÜck und meldete hörbar erleichtert: „Ich sehe keine Wolke Über uns!“ Auf meine Frage hin: „Hast du Jod genommen?“ Anwortete sie etwas genervt: „Nein, Jolanda, es ist einfach mitten in der Nacht und ich bin mÜde! Was ist denn los? Sonst rufst du doch nie um diese Zeit an." fragte sie gähnend. „Mama, ich spreche vom Unfall in Tschernobyl! Wieweit seid ihr denn betroffen?“ „Ach, das meinst du! Da musst du dir keine Sorgen machen, mein Kind! Wir dÜrfen kein GemÜse aus dem eigenen Garten essen und keine Pilze. Die Wolke, von der du wahrscheinlich sprichst, ist irgendwo oben in Schweden gesichtet worden, hier ist sonst alles beim Alten!“

Ich hakte nochmals nach und bat sie, zu uns nach México zu kommen, falls es schlimmer werden sollte, mitsamt meinen Geschwistern und ihren Familien, denn wir hätten genug Platz fÜr alle. Ohne darauf einzugehen sagte sie mit lautem Gähnen: „Mach dir keine Sorgen meine Liebe, ich gehe jetzt wieder Schlafen! Gute Nacht!“ Verunsichert und aufgewÜhlt hängte ich ein.

Später, als ich mich wieder beruhigt hatte, fuhr ich erneut mit Sandrita zur MärchenauffÜhrung, um den beunruhigten Frauen mitzuteilen, das nach Aussage meiner Mutter alle unsere BefÜrchtungen halb so schlimm seien. Auf der Hinfahrt realisierte ich erst, wie so weit entfernte Ereignisse die Menschen zu Übertreibungen verleiteten lassen!