Adler
 
12 - Die Schamanin
 

Schamanin Die dunklen Augen des Knaben verfolgten jeden Handgriff seiner Großmutter, während sie sich mit farbenfrohen Kleidern schmückte. „Grandma, darf ich dich heute begleiten?“ fragte der Dreikäsehoch, während er die alte Frau am Rockzipfel zog. „Nein Jenoe, du bleibst brav hier oben bei deiner Schwester Mia.“

Enttäuscht schürzte Jenoe seine Lippen und rannte aus dem kleinen Raum nach draußen ins Freie.

Mia, die sah, wie gelangweilt ihr kleiner Bruder mit einem Stock Kreise in die staubige Erde malte, winkte ihm lachend zu. „Hey Jenoe? Was hat dir denn den Tag verhagelt?“ wollte sie einfühlsam wissen. „Ach, es ist wegen Großmutter! Sie will mich einfach nicht hinunter in ihren Hogan mitnehmen, dabei bin ich dafür gross genug.“ „Nein, Jenoe, bist du eben nicht! Komm lass uns zu den Pferden gehen, die müssen gefüttert werden“, mahnte Mia und begab sich zu der Pferdekoppel. Jenoe ging ihr schlendernd hinterher.

In diesem Moment trat die Indianerin hinaus auf den grossen Platz, vor das aus Rundholz gebaute Haus. „Kinder, seid schön brav, bis ich wiederkomme“, rief sie ihren Enkelkindern hinterher. Eilig raffte sie ihre Röcke zusammen und ging leichten Schrittes den steilen Pfad bergab in den Canon de Chelly. Der Weg führte an roten Felsen vorbei. Manchmal blieb die Navajo Frau entzückt bei einer Blume stehen, die aus dem sandigen Boden wuchs.

Zur selben Zeit kämpften sich Albert und Bernadette den steilen Pfad hinauf. Obwohl das Schweizer Ehepaar noch recht jung war, klagte die dralle Frau unentwegt wegen dem steilen Aufstieg. Der grosse, hagere Krankenpfleger fuhr sich verärgert über das kurzgeschorene, rote Haar. „Stell dich nicht so an, Bernadette!“ presste er hervor, denn er hatte selber seine Probleme mit dem steilen Weg.

„Ist das denn die Möglichkeit!“ rief Albert erstaunt und zeigte mit dem rechten Zeigefinger nach oben. „Eine richtige Indianerin!“ entfuhr es da Bernadette. Noch bevor die Beiden begriffen, dass solch eine Begegnung in dieser Gegen ganz normal war, forschte Grandma bereits in den Gesichtern der Touristen, die sich den Berg hinaufquälten.

„Ma’am, sie sollten eine Kur mit diesen Kräutern machen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, kramte die Schamanin unter den bunten Stoffen einen Leinenbeutel hervor, den sie der perplexen Schweizerin lächelnd hinhielt. „Du musst einen Löffel voll mit heißem Wasser übergießen, fünf Minuten ziehen lassen und dann schluckweise trinken. Ist gut für das Herz!“ riet die alte Frau in gutem Englisch. Warum wusste die Indianerin von ihren Herzproblemen?, schoss es Bernadette durch den Kopf?

Bevor sie sich richtig bedanken konnte, lief die Greisin leichtfüßig weiter ins Tal hinunter. Es schien, wie wenn ihre weißen Turnschuhe den Boden nicht berühren würden.

Bernadette lag in der darauffolgenden Nacht lange wach. Im Morgengrauen war ihr klar, sie wollte diese Frau mit den farbigen Gewändern unbedingt wieder sehen. Aber wie? Sie musste ihr Vorhaben vor Ihrem cholerischen Mann verheimlichen, das war klar. Also fragte sie frühmorgens ganz unschuldig: „Was haben wir denn heute auf dem Programm, mein Schatz? Ich würde gerne noch einige Fotos vom Spider Rock schiessen.“ „Auf keinen Fall mache ich diese Tortur von gestern nochmals mit, das kannst du vergessen!“ rief der Mann aufgebracht, als er endlich richtig wach war. „Wir fahren mittags nach Chinle zum einkaufen. In der Zwischenzeit will ich keinen Mucks von dir hören! Ist das klar!“ Albert fasste seine Frau unwirsch am Handgelenk, so dass sie stöhnte. Dann drehte er sich missgelaunt auf die Seite und schlief laut schnarchend wieder ein.

Bernadettes Herz klopfte völlig aus dem Takt und schmerzte. Darum griff sie hastig nach den Tabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte, obwohl keine der Untersuchungen eindeutig auf ein Herzproblem hindeuteten. Aufgewühlt stieg sie aus dem Bett. Eine heiße Dusche und ein starker Kaffee würden ihr jetzt gut tun. Das schlug sich Bernadette jedoch schnell wieder aus dem Kopf! Sie wusste, sie würde wieder blaue Flecken davontragen, wenn Sie ihrem Mann nicht gehorchen würde. Immer wieder schlug Albert heftig zu, wenn ihm etwas nicht passte. Später kam er jeweils angekrochen, und schwörte sich zu bessern. Bernadette verzieh ihm stets auf's Neue, und alles war wieder gut. Bis zum nächsten Mal.

Im gemieteten Camper war nur wenig Platz. Albert, dieser Geizkragen, hatte sich für einen Zweiplätzer entschieden, nur etwa 19 Fuß lang. Unsicher, was sie nun tun sollte, schaute Bernadette verzweifelt durch die Dachluke hinauf zum herrlich blauen Himmel über ihr.

Jetzt war ihre Zeit gekommen! Bernadette musste sich zusammen reissen, um nicht zu weinen! Auf leisen Sohlen verließ sie, vor Angst zitternd, das Wohnmobil. Der Campingplatz schien wie ausgestorben. Einzig einige hungrige Krähen stritten sich um ein Stück Brot.

Nur mit einem kleinen, grauen Rucksack ausgerüstet, begab sich Bernadette zum südlichen Canyonrand, am White House Overlook, vorbei zum White House Ruin Trail. Sie wusste, es war die einzige Möglichkeit ohne Guide ins Tal hinunter zu gelangen. Sie hoffte, den kilometerlangen Pfad trotz ihrer schlechten Verfassung in gut einer Stunde bewältigen zu können. Je weiter sich Bernadette von ihrem Mann entfernte, um so kräftiger fühlt sie sich auf den Beinen.

White House RuinIm Canyon angekommen schaute sie sich vorsichtig um. Auch hier unten kein Mensch weit und breit. Wo war die Navajo Frau, die ihr gestern die Heilkräuter schenkte, geblieben? Einige junge Hunde spielten übermütig in der Morgensonne. Die Mutter der putzigen Fellknäuel bellte lautstark in Bernadettes Richtung.

Ängstlich fragte sie sich, das Richtige getan zu haben? Wäre es besser, umzukehren und Albert's Wutausbrüche weiterhin über sich ergehen zu lassen? Nein! Dieses Mal wollte sie standhaft bleiben und ihrer inneren Stimme folgen!

In sich gekehrt trottete sie, fast schleichend, an der kleinen Hogan Siedlung der Navajo Indianer vorbei. Der schmale Weg führte weiter in das trockene Flussbett, das von gelb leuchtenden Bäumen gesäumt war.
Totenkopf-Stein

Angespannt setzte sich Bernadette, die von Selbstvorwürfen geplagt wurde, auf einen trockenen Baumstamm. Der warme Windstoß, der ihr blondes, kurzes Haar zerzauste, zauberte ein Lächeln auf ihr schönes Gesicht, das aber schnell wieder verschwand. „Mein Gott!“ entfuhr es ihr entsetzt, denn vor ihren Füssen lag ein Stein, der die Form eines Totenkopfes aufwies.

Was hatte das zu bedeuten? „Hallo, Bernadette!“ rief da eine Stimme aus der Ferne. „Albert?“ flüsterte sie ungläubig hinaus in den immer stärker werdenden Wind. Hatte ihr Mann sie am Ende gesucht und, du meine Güte, auch gefunden? Erneut hörte sie ihren Namen rufen!

Spider RockDie Stimme kam nun eindeutig vom Spider Rock. Erschrocken sah Bernadette zu den zwei Felsnadeln empor. Auf dem 240 Meter hohen Wahrzeichen des Canyons, sah sie jedoch niemanden stehen. Angespannt lauschend, kam ihr voller Grauen der Mythos dieses Berges in den Sinn. Er besagte, dass da oben die Spinnenfrau wohnte, die ungehorsame Kinder verschlinge. Würde sie nun am Ende ebenfalls verschlungen werden, schoss es Bernadette ängstlich durch den Kopf.

Der Wind hatte drastisch zugenommen. Lautes Geplapper erlöste sie aus ihrer Erstarrung. Touristen waren im Anmarsch. Dem Weinen nahe, schlug die gepeinigte Frau den Mantelkragen hoch. Niemand sollte ihr Gesicht sehen! Ihr Blick fiel erneut auf den Stein neben sich. Die Sonne verschwand hinter den Wolken, was die Umgebung noch düsterer erscheinen liess. Abwartend schloss Bernadette die Augen. Da wurde sie von grellem, hellem Licht erfüllt. Blinzelnd nahm sie viele kleine Menschen wahr, deren Hautfarbe wie Kupfer in der Sonne leuchtete.

Nur einen Augenblick der Verwunderung! Schon nahm sich Bernadette mitten in dem bunten Treiben wahr. Was für ein herrliches Gefühl! Hundegebell! Ein Truthahn gab kurlige Laute von sich. Dunkle Augen eines Kindes schauten sie fragend an. „Hilfst du mir Wasser hinauf tragen?“ „Natürlich! Komm, gib mir die Kalabasse.“ sagte Bernadette entzückt. Mutig stieg sie, dem Kind folgend, die steile Holzleiter empor, die die Behausungen im Tal mit denen in der Felsnische oben verband.

Die Männer vom 'White House' trugen ausser einem Lendenschurz nichts auf der braunen Haut. Die Frauen dagegen waren mit knielangen, aus Wildleder gefertigten Röcken bekleidet.

Verwirrt liess Bernadette den Stoff ihres reich bestickten Kleides durch die Finger gleiten. Was war mit ihr geschehen? Sie hatte jedoch keine Zeit Fragen zu stellen, denn sie musste arbeiten. Eilig griff Bernadette nach dem Korb, der mit lauter fingerlangen, schwarzen Maiskolben gefüllt war.

Mano Sie rieb fleissig die getrockneten Maiskörner zwischen den zwei Steinen, Metate und Mano, zu Mehl. Eine mühselige Arbeit! In diesem Moment setzte sich die bunt bekleidete Indianerin vom Vortag neben sie, mit einem kleinen, hölzernen Webstuhl, wobei sie jetzt viel jünger aussah. Ihr schwarzes, langes Haar, glänzte im Sonnenschein.

Einige Mädchen gerbten fleißig Hirschleder, wobei sie sich mit Handzeichen verständigten, denn die Männer duldeten keinen Lärm, wenn sie assen. „Hungrig?“ fragte die Weberin leise, wobei ihre schmale Hand auf Bernadette's Mund zeigte. Nach einem freudigen Nicken begaben sie sich zu der Feuerstelle, die auf dem Felsvorsprung loderte

Die Männer gingen nun wieder ihrer Arbeit nach. Anscheinend waren sie satt, denn sie rülpsten laut. Nun durften die Frauen mit den Kindern essen. Bernadette genoss hungrig einige leckere Maisfladen, gefüllt mit gekochten Bohnen und etwas von dem wenigen Fleisch eines Hirsches, das die Männer zurückgelassen hatten.

Kaum den letzten Bissen verspeist, liefen die Frauen leichtfüßig die Leiter hinunter zum nahen Fluss, wo sie die Kalabassen mit dem kühlen, klaren Wasser füllten, welches sie dann mühselig in die Cliff-Dwellings hinauftrugen. An Arbeit fehlte es dem fleißigen Volk nie.

Abends fiel Bernadette völlig übermüdet aber glücklich auf ihr hartes Lager, das sie mit einigen Frauen und Kindern teilte. Im Traum sah sie einem verdorrten Holzstamm am Boden liegen. Urplötzlich wurde sie von hellem Licht geweckt. Sie blinzelte und traute ihren Augen kaum! Es war Tag und die Sonne schien warm. Sie sass auf einem Baumstamm, ihren grauen Regenmantel eng um sich geschlungen. Noch ganz benommen erhob sie sich und verliess diesen seltsamen Ort mit grossen Schritten.

Ihr war klar, nach allem was in den letzten Stunden geschah, musste sie die Indianerin mit den farbigen Gewändern finden!

Was war das dort drüben? Da hing ja ein Traumfänger an einem Ast. Bernadette bewunderte das schöne Stück, das leicht im Wind baumelte. Bevor sie erneut in eine andere Zeit katapultiert wurde, öffnete sich die Türe des Hogans vor ihr. Spitzbübisch lächelnd trat Grandma, erneut eingewickelt in farbige Tüchern, ins Freie und sagte: „Komm mein Kind, hier bist du Zuhause!“ Bernadette wurde es warm ums Herz und sie spürte, dass sie hier viel Kraft tanken konnte. Sie wollte Albert für immer vergessen. Endlich!

In blinder Wut suchte Albert jeden Meter rings um den Canyon de Chelly nach Bernadette ab. Der würde er es zeigen! Einfach zu verschwinden! Von seiner Frau fehlte jedoch jede Spur. Eigenartigerweise fühlte er sich von Ballast befreit, denn als solchen hatte er Bernadette stets betrachtet, und er genoss die letzten Tage in den Staaten, bevor er die Heimreise alleine antrat.

Zu Hause angekommen, fehlte ihm Bernadette in einer Art und Weise, die er nie für möglich gehalten hätte! Am Boden zerstört, schaltete er die Interpol ein. Erfolglos! Seine Frau blieb trotz allen Bemühungen für Albert unauffindbar. Bernadettes Leben nahm in der Folge eine grosse Wende, denn sie heiratete einen Navajo Indianer.

Mit ihm zog sie in die Nähe von Grandma, in einen hübschen, kleinen Hogan, direkt am Fluss. Sie lernte reiten, denn sie besass nun ein braun weiss geflecktes Pferd. Agila, so hiess ihr Mann, liebte Bernadette Über Alles. Die Beiden fÜhrten ein Leben voller GlÜck in Freiheit.

Endlich fühlte sie sich gesund und lebensfroh. An Albert verschwendete sie nie mehr einen Gedanken.